Du bist gefragt!

Wie wollen wirüber den Holocaustsprechen?

Auf Augenhöhe Einfühlsam Gar nicht

Kennst du das? In der Schule steht das Thema Holocaust auf dem Stundenplan, du findest es interessant, aber hast das Gefühl, dass du dich dazu nicht frei äußern darfst? Dass du betroffen sein musst und es vorgefertigte Antworten gibt?  

Es gibt viele Gründe, weswegen das in Deutschland so ist. Es gibt keine Gründe dafür, dass das so bleiben muss. Wir wollen das ändern: Hier kannst du deine Meinung sagen – und deine Gedanken in unsere neue Ausstellung für 2022 einbringen. 

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Du möchtest wissen, wieso wir diese Seite gemacht haben und wie du sie für die Arbeit mit deiner Gruppe nutzen kannst?

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Wieso diese Seite?

Liebe Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, 
in Deutschland wird viel und häufig über den Nationalsozialismus und die Shoah gesprochen.(1) Das finden wir gut, doch die entscheidende Frage ist für uns: Wie wollen wir über die Shoah sprechen?  

Wir sind der Meinung, dass wir neue, offenere Formen des Sprechens und der Auseinandersetzung finden müssen. Mit dieser Seite wollen wir dich und alle anderen Menschen zu einem Gespräch über die deutsche Erinnerungskultur einladen. Deine Meinungen und Ideen werden in die Neukonzeption unserer historischen Ausstellung einfließen.
 
Hast du Fragen, Anregungen oder Kritik zu dieser Seite, schreibe uns eine Email an: mitdenken@landesmuseen.sh  

Für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren haben wir einige Ideen zusammengestellt, zu welchen Themen mit Gruppen gearbeitet werden könnte. Wir freuen uns, wenn du die Ergebnisse deiner Gruppe auf unserer Seite veröffentlichen möchtest.  

Die Überlebenden

Thematische Einordnung: Entwicklung der Erinnerungskultur nach 1945 (in Schleswig-Holstein), Umgang der Überlebenden mit den eigenen Erinnerungen, Tagebücher als Quelle 

Aufgabe: Schreibe einen Tagebucheintrag einer der verfolgten Personen, die wir hier auf dieser Seite vorstellen. Stelle dir vor, sie setzt sich 1950 hin und schreibt, wie es ihr fünf Jahre nach dem Ende der NS-Zeit geht. Welche Gedanken beschäftigen sie? An wen denkt sie? Wo ist sie? Wer ist bei ihr? 

Mögliche Umsetzungsformate: Fotos eines handschriftlich verfassten Textes, Word- oder PDF-Datei, Instagram-Post

Die eigene Familiengeschichte 

Thematische Einordnung: Täterschaft im Nationalsozialimus, Beteiligung der Bevölkerung, Lokal- und Regionalgeschichte, Auseinandersetzung mit der Shoah in einer Einwanderungsgesellschaft 

Aufgabe: Wird in deiner Familie manchmal etwas über die NS-Zeit erzählt? Was weißt du über deine Urgroßeltern oder Großeltern? Was haben sie während der NS-Zeit gemacht und welche Einstellungen hatten sie? Entwickel einen Fragebogen, um deine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern nach eurer Familiengeschichte zu befragen. Sollte deine Familie während der NS-Zeit nicht in Deutschland gelebt haben, frage danach, welche Bedeutung der Nationalsozialismus und die Shoah in deiner Familie haben. Hatte diese Zeit für frühere Generationen vielleicht eine andere Bedeutung? 

Überlege und fasse zusammen, was dieses Thema möglicherweise mit dir selbst und mit andere jungen Menschen zu tun hat. Tausche dich darüber auch mit deinen Mitschülerinnen und Mitschülern aus. Notiere Beispiele, wie du andere an diese Zeit erinnern kannst. Erkläre jemandem aus deiner Klasse, warum die Erinnerung auch heute noch für euch bedeutsam ist.  

Mögliche Umsetzungsformate: Filme, Texte, Bilder, Podcasts

Erinnerungspolitik 

Thematische Einordnung: Erinnerungskultur heute, Etablierung einer Ausgrenzungsgesellschaft damals und heute 

Aufgabe: In politischen Diskussionen und Reden spielen Erinnern und Gedenken immer wieder eine große Rolle. Das zeigt sich beispielweise, wenn in Gemeinden oder Städten über die Umbenennung von Straßennamen diskutiert wird. Das ist oft dann der Fall, wenn die Person, nach der eine Straße benannt wurde, sich während der NS-Zeit mitschuldig gemacht hat.

Recherchiere die Haltung zweier politischer Parteien zum Erinnern und Gedenken. Gibt es Gemeinsamkeiten? Gibt es Gegensätze? Welche Meinung hast du? 

Mögliche Umsetzungsformate: Durchführung einer fiktiven Parlamentsdebatte, die gefilmt oder verschriftlicht werden kann, Texte, Bilder, Podcast

Neue Formen des Gedenkens 

Thematische Einordnung: Erinnerungs- und Gedenkkulturen heute  

Aufgabe: Entwickel gemeinsam mit deinen Mitschülerinnen und Mitschülern Ideen für neue Formen des Gedenkens. Entwerft das Programm zu einer Gedenkveranstaltung am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar). Was ist euch dabei wichtig? Wer soll dabei sein? Was soll gemacht werden? Wo soll die Veranstaltung stattfinden? 

Mögliche Umsetzungsformate: Texte, Bilder, Podcast, Filme 

(1) Für die von uns erstellten Texte haben wir uns mit Veröffentlichungen von Max Czollek, Harald Welzer, Samuel Salzborn, Doron Kiesel, Volkhard Knigge und vielen anderen auseinandergesetzt.
Holocaust – wie wird darüber gesprochen?
Holocaust oder Shoah?

Seit 1979 die US-amerikanische Serie „Holocaust“ in Deutschland ausgestrahlt wurde, hat sich „Holocaust“ als Begriff in der Forschung und Öffentlichkeit durchgesetzt. Holocaust kommt aus dem Griechischen und bedeutet „vollständig verbrannt“.

Shoah hingegen ist Hebräisch und heißt „Unheil“ oder „Katastrophe“ - eine treffendere Beschreibung des Völkermords an Jüdinnen und Juden. Der Begriff wurde während der Zeit des Nationalsozialismus von Jüdinnen und Juden geprägt und umfasst auch all die Menschen, die Opfer geworden sind, aber dennoch überlebt haben. Wir verwenden den Begriff Shoah, da er die jüdische Perspektive widerspiegelt.

Familiäre Erinnerung und Gedächtnis

69,8 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre Vorfahren während der NS-Zeit nicht zu den Täterinnen und Täter gehörten. 35,9 Prozent glauben sogar, dass ihre Vorfahren zu den Opfern gehörten und 28,7 Prozent sind der Meinung, dass ihre Vorfahren Verfolgten geholfen hätten. (1) Die historische Forschung geht jedoch davon aus, dass das in Wirklichkeit nur 0,3 Prozent der damals 70 Millionen Deutschen getan haben. Also nur ca. 200.000 Menschen. Der Großteil der deutschen Bevölkerung hat dagegen die Vernichtungspolitik des NS-Regimes befürwortet oder zumindest wissend davon profitiert. Die Gestapo kam mit der Verfolgung gar nicht so schnell hinterher, wie die Deutschen ihre Nachbarinnen und Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde, Familienmitglieder und andere Menschen denunzierten

 (1) Ergebnisse der MEMO-Studie 2019 des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, vgl. Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld, Leipzig, S. 20.

Familiäre Erinnerung und Gedächtnis
Schuld

„Ich bin doch nicht Schuld!“ Hast du schon mal gehört, dass jemand beim Sprechen über die Shoah das gesagt hat? Oder hast du manchmal selber das Bedürfnis das zu betonen? Wieso eigentlich? Schuld an den begangenen Verbrechen haben die Täterinnen und Täter, die während der NS-Zeit gelebt haben. Sonst niemand. Die deutsche Gesellschaft hat allerdings bis heute ein Problem damit anzuerkennen, dass es größtenteils die eigenen Vorfahren waren, die mordeten oder wegsahen. Das führt dazu, dass einige Menschen heute immer noch eine Schuld abwehren wollen, obwohl niemand sie ihnen unterstellt.

Jüdische Perspektiven? Fehlanzeige

Weißt du, was deutsche Jüdinnen und Juden über die Erinnerungskultur denken? Weißt du, ob und wie die Shoah das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland heute noch betrifft und beeinflusst? Hast du schon mal davon gehört, dass Jüdinnen und Juden sich häufig auf die Themen Shoah, Israel und Antisemitismus reduziert fühlen? Wir empfehlen dir, deine Lehrerinnen und Lehrer zu bitten, mit euch auch über jüdische Perspektiven zu sprechen. Oder du schaust dir online selbst etwas an. Beispielsweise Texte oder Videos von Ronen Steinke, Max Czollek, Juna Grossman oder Marina Weisband. Oder das Projekt Jewersity, in dem sich Jüdinnen und Juden vorstellen.

Antisemitismus

Judenfeindschaft ist keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern hat in vielen Ländern eine lange Tradition. Ihren Höhenpunkt fand sie in der Shoah. Nach der Befreiung aus den Lagern und Verstecken hatten einige Jüdinnen und Juden gehofft, dass das Ausmaß der Verbrechen jeglichen Antisemitismus beenden würde. Leider irrten sie sich. Antisemitinnen und Antisemiten gibt es bis heute und sie zeigen in den letzten Jahren und Monaten immer offener ihren Hass. Sie sorgen dafür, dass Jüdinnen und Juden sich in Deutschland unsicher fühlen. Das geht uns alle etwas an. Denn niemand von uns möchte in einer Gesellschaft leben, in der andere Menschen ausgegrenzt und bedroht werden, oder?
Wenn du mehr über unterschiedliche Formen von Antisemitismus wissen möchtest und wie du ihn erkennst, schaue hier: https://www.stopantisemitismus.de

Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte
Salein-Hirt
1891 (Kiel) – 1952 (Kiel)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte
Salein-Hirt
1891 (Kiel) – 1952 (Kiel)

Käte Salein-Hirt, geb. Hirsch, wird am 20. Januar 1891 in Kiel geboren. Von 1897 bis 1905 besucht sie dort die städtische Mädchenschule (heute Ricarda-Huch-Schule). 1914 schließt sie erfolgreich eine zweijährige Schauspielausbildung am Staatstheater Hamburg ab. Direkt im Anschluss erhält sie erste Engagements an verschiedenen Theatern in ganz Deutschland. Ihre beginnende Karriere wird mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt beendet. Sie erhält Berufsverbot, weil sie als ‚Halbjüdin‘ gilt, obwohl sie sich selbst nicht als jüdisch definiert. Käte Salein-Hirt schlägt sich in den folgenden Jahren mit Gelegenheitsarbeiten durch. Die Kriegsjahre verbringt sie gemeinsam mit ihrer Tochter Rosemarie, die am 13. September 1920 in Bremerhaven geboren wird, in Kiel. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, der von den Nationalsozialisten als ‚Arier‘ definiert wird.

Auftritt Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Auftritt Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)

Nach dem Krieg versucht Käte Salein-Hirt alles, um an ihr Leben vor 1933 anzuknüpfen.

Sie will unbedingt wieder auf der Bühne stehen und muss zudem in der schwierigen Nachkriegszeit dringend Geld verdienen, um sich und ihre Tochter zu versorgen. Für die Spielzeit 1946/47 wird sie aushilfsweise am Stadttheater Kiel engagiert, für das folgende Jahr erhält sie sogar einen festen Vertrag.

Die Freude ist allerdings nicht von langer Dauer – im Januar 1947 wird sie wieder entlassen. Das städtische Theater begründet die Kündigung mit „künstlerischen Gründen“, Käte Salein-Hirt sieht allerdings ein anderes Motiv des Theaters: Die Bevorzugung einer Kollegin, die ihrer Angabe nach in NS-Organisationen tätig gewesen sei. Käte Salein-Hirt kämpft um ihre Wiedereinstellung. Sie schreibt an das Innenministerium:

„Ich brauche wohl nicht zu betonen, welchen Schrecken ich als Halbjüdin während der Nazi-Zeit ausgesetzt war, und ich wünsche nur, dass der Zustand von 1933 wiederhergestellt wird, also dass ich meinen künstlerischen Beruf wieder ausüben kann. Das Stadttheater Kiel hat bisher noch keinen Beitrag zur Wiedergutmachung geleistet, trotzdem es dazu wohl in der Lage wäre, und ich bitte ergebenst dem Theater aufzuerlegen, dass ich wieder eingestellt werde.“

Käte Salein-Hirt als „die komische Alte“ (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt als „die komische Alte“ (Jüdisches Museum)

Dass Innenministerium schreibt ihr dazu, „dass Ihre Wiederverwendung als Schauspielerin nicht möglich ist, da Sie den an eine Schauspielerin zu stellenden künstlerischen Anforderungen nicht mehr entsprechen.“ Stattdessen wird ihr eine Stelle in der Verwaltung des Theaters angeboten – eine Alternative, die für die Schauspielerin nicht infrage kommt.

Sie reagiert, indem sie den Ministerpräsidenten Hermann Lüdemann in einem Schreiben um Unterstützung bittet und auf die ihr widerfahrene Verfolgung im Nationalsozialismus verweist: Sieben ihrer Verwandten seien in einem Konzentrationslager ermordet worden und nun würde ihr gesagt, dass sie zu alt sei, um auf der Bühne zu stehen. Direkt nach Kriegsende sei die Beurteilung ihrer Person anders ausgefallen. Da habe sie die Rückmeldung bekommen, dass sie „noch gut aussieht“ und „eine gute künstlerische Leistung“ erbringe. Nun sei ihr auch das wieder genommen worden und das alles zu Gunsten der NS-Frau. Zum Ende des Schreibens beklagt sie, dass niemand ihr die zwölf Jahre wiedergeben könne. Außerdem stehe für sie außer Frage, dass sie noch geeignet sei als „Mütterspielerin und komische Alte“. Ob sie eine Antwort von Lüdemann erhält, ist nicht klar.

Das Innenministerium veranlasst eine „Begutachtung der künstlerischen Leistung“.

Das Innenministerium veranlasst allerdings eine „Begutachtung der künstlerischen Leistung“ von Käte Salein-Hirt, die im Dezember 1947 am Theater in Flensburg stattfindet. Die vier begutachtenden Männer, die allesamt während der NS-Zeit tätig waren, teilweise sehr früh NSDAP-Mitglieder wurden und auch in ihrer künstlerischen Arbeit durch judenfeindliche Darstellungen auffielen, entscheiden gegen Käte Salein-Hirt. Es lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, wie das Vorsprechen damals wirklich gelaufen ist. Jedoch ist die schlechte Beurteilung der Schauspielerin, im Vergleich zu ihrer Vorkriegskarriere, auffällig.

Käte Salein-Hirt, nach 1945 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, nach 1945 (Jüdisches Museum)

Über ihr weiteres Schicksal ist wenig bekannt. Ab 1949 bezieht sie Arbeitslosenfürsorge, sie stellt außerdem einen Antrag auf ‚Wiedergutmachung‘, um eine Rente zu bekommen. Vor dem Abschluss des Verfahrens verstirbt sie jedoch 1952.

Quelle: Jonas Kuhn: Käte Salein-Hirt, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 118-123.
Norbert Wollheim
Norbert Wollheim
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über das Gedenken

Wie gedenken andere?

27.01.2021
Land Schleswig-Holstein
27. Januar – offizielles Gedenken des Landes Schleswig-Holstein
Die zentrale Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar findet (in der Regel) im jährlichen Wechsel im Landtag und an verschiedenen Orten in Schleswig-Holstein statt. Inhaltlich gestaltet wird sie mit wechselnden Partnerinnen und Partnern. Jedes Jahr gibt es einen anderen thematischen Schwerpunkt. Neben einem Grußwort des Landtagspräsidenten sind Gedenkrede, Gebete (ein jüdisches und ein christliches), Gedenkminute und musikalische Umrahmung wiederkehrende Bestandteile. Je nach Thema und Ausgestaltung kommen auch weitere Elemente (z.B. Ausstellung, Performance, Lesung oder Theaterszenen) hinzu.
Der Landesrabbiner Dov Levy Barsilay erinnert an den Anschlag auf die Lübecker Synagoge 1994 (Landtag)
Holocaustgedenktag 2018 Gedenkfeier zum 27. Januar 2018 im Landeshaus. Landtagspräsident Klaus Schlie begrüsst die geladenen Gäste (Landtag)
Gedenkfeier zum 27. Januar 2020 im Landeshaus (Landtag)
Zentrale Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus
Ausstellung Fotograf Stefan Hanke
Gedenkstunde und Ausstellungseröffnung Schülerinnen und Schüler der Hebbelschule haben Berichte von Zeitzeuginnen in einem Theaterstück veranschaulicht (Landtag)
Schülerinnen und Schüler der Herderschule tragen Erinnerungen des Rendsburger Juden Fred Ring vor (Landtag)

Ihr seid eine Gedenkstätte, eine Gemeinde oder ein Verein und wollt eure Inhalte und Gedanken zum Thema Gedenken teilen?

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Ausstellungen und Arbeit mit Jugendlichen im Jüdischen Museum

Wie erinnern wir an die Menschen, die während der Shoah zu Opfern geworden sind und wie arbeiten wir mit Jugendlichen? Davon berichtet Jonas Kuhn, der Museumsleiter, in diesem kurzen Video. 

Benjamin „Bolek“ Gruszka
Benjamin
„Bolek“
Gruszka
1925 (Warschau) – 2020 (Israel)
Benjamin „Bolek“ Gruszka
Benjamin
„Bolek“
Gruszka
1925 (Warschau) – 2020 (Israel)

Benjamin „Bolek“ Gruszka wird am 5. Mai 1925 in Warschau geboren. 1938 feiert Benjamin seine Bar Mizwa und beginnt eine Lehre als Goldschmied. Als die deutsche Wehrmacht 1939 Polen besetzt, ändert sich sein Leben schlagartig. Im Oktober 1940 richten die deutschen Besatzer am Wohnort der Familie das berüchtigte Warschauer Ghetto ein. Mitte November wird das Ghetto abgeriegelt, bei Verlassen droht die Todesstrafe. Immer mehr Menschen werden dorthin gebracht, bis auf engstem Raum 400 000 polnische Jüdinnen und Juden zusammengepfercht sind. Die Lebensbedingungen sind katastrophal: Krankheiten breiten sich aus, die Lebensmittelversorgung ist sehr schlecht. Die Sterblichkeitsrate ist extrem hoch – überleben kann nur, wer lernt sich anzupassen, sich zu verstellen und zu „organisieren“.

Der fünfzehnjährige Benjamin schmuggelt illegal Waren in das Ghetto, um seine Familie zu ernähren. Nach einiger Zeit wird er dabei erwischt und verhaftet, doch es gelingt seinem Vater durch Kontakte und Bestechung, ihn wieder freizubekommen. Im Juli 1942 beginnen die Deportationen in die Vernichtungslager – beim ersten Transport ist auch Benjamin Gruszkas Vater dabei. Jetzt muss Benjamin allein für seine Mutter und die fünf Geschwister sorgen.

Im Januar 1943 wird die Familie auseinandergerissen: Benjamin Gruszkas gesamte verbleibende Familie wird nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Er selbst kann sich durch Untertauchen der Festnahme entziehen.

Als das Ghetto drei Monate später gewaltsam aufgelöst wird und alle Bewohner:innen deportiert oder vor Ort ermordet werden, schafft er es zu entkommen. Die folgenden zwei Jahre verbringt er mit einer jüdischen Partisanengruppe. Nach dem Ende des Krieges, das er in Lublin erlebt, kehrt er zunächst in seine völlig zerstörte Heimatstadt zurück, um seine Familie zu suchen. Doch niemand hat überlebt.

Holocaust-Überlebende auf dem Hof vor der Lübecker Synagoge.
Mit Ziehharmonika: Benjamin Gruszka, 1946 (Jüdisches Museum)
Holocaust-Überlebende auf dem Hof vor der Lübecker Synagoge.
Mit Ziehharmonika: Benjamin Gruszka, 1946(Jüdisches Museum)
Benjamin Gruszka bei seiner Arbeit als Übersetzer im Lager Pöppendorf, 1947 (Jüdisches Museum)
Benjamin Gruszka bei seiner Arbeit als Übersetzer im Lager Pöppendorf, 1947 (Jüdisches Museum)
Hochzeit Nina, geb. Jacobsohn und Benjamin Gruszka in Lübeck, 1960 (Jüdisches Museum)
Hochzeit Nina, geb. Jacobsohn und Benjamin Gruszka in Lübeck, 1960 (Jüdisches Museum)

Eine neue Identität

Die Bricha, eine jüdische Fluchthelferorganisation, beauftragt Gruszka, in Lübeck einen Stützpunkt einzurichten. Er nimmt eine neue Identität an und kommt im Mai 1946 in Lübeck an. Seine Hauptaufgabe besteht darin, jüdische „Infiltrees“ aus Polen mit falschen Papieren auszustatten und ihre illegale Weiterreise nach Palästina zu ermöglichen. Als Infiltrees wurden Jüdinnen und Juden bezeichnet, die die Befreiung in Osteuropa erlebt und wegen der schwierigen Situation und des starken Antisemitismus vor Ort in die westlichen Besatzungszonen flüchteten. Zwischen Sommer 1946 und 1947 schleusen er und seine Helfer nach eigenen Angaben über 15 500 Menschen nach Palästina, in erster Linie Überlebende der Shoah. Mit der Gründung Israels im Mai 1948 ist Boleks Arbeit für die Bricha offiziell beendet.

Die „Exodus“ im Hafen von Haifa, Juli 1947 (Israel Government Press Office)
Die „Exodus“ im Hafen von Haifa, Juli 1947 (Israel Government Press Office)

“Ich bin ja hier nur hängengeblieben.”

Er lässt sich in Lübeck nieder und betreibt dort verschiedene Geschäfte. 1960 eröffnet er die erste Diskothek der Stadt, weitere folgen. Im selben Jahr heiratet er die 1938 geborene Jüdin Nina, die aus Birobidjan in Sibirien stammt. Mit ihr hat er zwei Töchter. Bolek zählt im April 1968 zu den Gründungsmitgliedern der Jüdischen Gemeinschaft in Schleswig-Holstein. In Israel wird er 1987 als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus ausgezeichnet, bekommt im Jahr darauf die Verdienstnadel von Yad Vashem und erhält 1995 die höchste Auszeichnung als jüdischer Kämpfer.

In Deutschland bleibt ihm eine ähnliche Anerkennung zu Lebzeiten verwehrt. Benjamin Gruszka zieht 2011 mit seiner Frau nach Israel. 2020 verstirbt er nach langer Krankheit. Seine Kinder erhalten Kondolenzbekundungen von Menschen auf der ganzen Welt, die nach all den Jahren nicht vergessen haben, was Benjamin „Bolek“ Gruszka für sie getan hat. In Zeitungsberichten wird an Benjamin Gruszkas Einsatz für seine jüdischen Mitmenschen erinnert.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Benjamin Gruszka, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 76-81.
Pinkus und Rena Olstein
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über das Gedenken
Opferfokussierung

Ob im Fernsehen, im Schulunterricht oder auch online. Die Menschen, die während der Shoah zu Opfern wurden, stehen im Fokus der Erinnerungskultur. Das ist gut und das ist wichtig. Denn die unbeschreiblichen Leiden, die den Menschen während der Shoah zugefügt wurde, haben für uns alle eine Bedeutung. Egal, woher wir oder unsere Familien kommen.
Es ist aber auch wichtig, dass wir darüber nicht vergessen, wer für die Verfolgung und die Morde verantwortlich war. Denn die meisten Menschen, deren Familien schon seit der NS-Zeit in Deutschland leben, haben keinen Bezug zu den Opfern, aber sehr wohl zu den Täterinnen und Tätern. Denn die sind größtenteils ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Welchen Bezug hast du zur Shoah?

Opferfokussierung
Verantwortung

Wir, die Menschen, die jetzt leben, tragen die Verantwortung dafür, dass niemand aufgrund seiner Herkunft, seiner Kultur, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung oder seines Alters diskriminiert, verfolgt, verletzt oder getötet wird. Wir, das Team des Jüdischen Museums, wünschen uns, dass jede und jeder sich in der Verantwortung sieht eine Gesellschaft mitzugestalten, in der alle Menschen gleichberechtigt zusammenleben können. Die Shoah hält uns vor Augen, wohin es führen kann, wenn wir gleichgültig gegenüber unseren Mitmenschen werden. Deswegen ist es uns wichtig, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten und den Menschen zu gedenken, die zu Opfern geworden sind. 

Schuldabwehr

Nach dem Krieg sahen sich die Deutschen als „nicht schuldig“ an. Viele rechtfertigten sich damit, nichts gewusst oder lediglich Befehle befolgt zu haben. Die Erzählung des „Nicht-schuldig-Seins“ setzt sich bis heute fort. Zwar werden die Taten von damals verurteilt, es wird den Opfern gedacht, aber Bezüge zur eigenen Familiengeschichte werden viel zu wenig hergestellt. Im Gegenteil geht es oft sogar so weit, dass sich Wut und Zorn über die Taten gegen die Überlebenden und ihre Nachkommen richten. Das äußert sich dann in Antisemitismus und Israelhass. Damit einher geht die Forderung einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die Shoah zu ziehen. 

Schuldabwehr
Wessen gedenken wir?
Ilse und Heinz Salomon, 1958 (Privatbesitz)
Ilse und Heinz Salomon, 1958 (Privatbesitz)
„Außerdem müssen wir uns darüber klar sein, daß die Juden in Schleswig-Holstein eine aussterbende Gemeinschaft sind.“
Heinz Salomon gemeinsam mit Norbert Wollheim und Leo Baeck, September 1948 (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
Heinz Salomon gemeinsam mit Norbert Wollheim und Leo Baeck, September 1948 (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
Heinz Salomon wird vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, 1960 (Jüdisches Museum) Heinz Salomon wird vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, 1960 (Jüdisches Museum)
Ilse Salomon wird vom Bundespräsidenten Herzog für ihre Verdienste für die jüdische Gemeinschaft geehrt, 1999. (Privatbesitz) Ilse Salomon wird vom Bundespräsidenten Herzog für ihre Verdienste für die jüdische Gemeinschaft geehrt, 1999. (Privatbesitz)
Heinz und Ilse Salomon
1900 (Ribnitz-Damgarten) – 1969 (Kiel)
1925 (Stettin) – 2006 (Krailling/Bayern)

Heinz Salomon wird am 18. Mai 1900 in Ribnitz-Damgarten/Mecklenburg geboren. Seine Eltern sind der Kaufmann Julius Salomon und seine Frau Jenny. Heinz Salomon ist der älteste von drei Geschwistern. Bevor er seinen Abschluss auf der Stralsunder Oberrealschule macht, wird er im September 1918 freiwillig Soldat im Ersten Weltkrieg. Im März 1919 holt er seinen Abschluss nach. In der Folgezeit studiert er zunächst Zahnmedizin, entschließt sich dann aber, eine kaufmännische Lehre zu absolvieren. 

1927 zieht Heinz Salomon nach Kiel und tritt der dortigen jüdischen Gemeinde bei. Er arbeitet bis zum November 1938 als selbstständiger Vertreter für verschiedene Firmen. 1934 heiratet er die nichtjüdische Lydia-Eva Krull. Die Ehe der beiden gilt als ‚nichtprivilegierte Mischehe, da sie keine Kinder haben, die christlich erzogen worden wären. Als ‚privilegierte Mischehe‘ hätte die Ehe auch gegolten, wenn anstatt von Heinz Salomon seine Frau jüdisch gewesen wäre. 

Im Rahmen des Novemberpogroms wird Heinz Salomon verhaftet und in ‚Schutzhaft‘ genommen. Vom Kieler Polizeigefängnis aus wird er in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht und dort zur Arbeit beim Bau gezwungen. Im Januar 1939 kommt er wieder frei. Durch die Haft ist er wochenlang schwer krank. Die Gestapo nimmt darauf keine Rücksicht. Bereits im März 1939 verpflichtet sie ihn zur Zwangsarbeit auf dem Gut Hof Hammer. Dort muss Heinz Salomon gegen einen sehr geringen Wochenlohn zehn Tage lang einen Teich ausschachten. 

1940 müssen er und seine Frau aus ihrer Wohnung ausziehen und bekommen eine Wohnung im Haus im Feuergang 2 zugewiesen. Dieses Haus gilt als das Kieler Ghetto. Dort werden, unter strenger Aufsicht der Gestapo, immer mehr jüdische Familien eingewiesen, bevor sie in Ghettos und Konzentrationslager deportiert werden.

1940 bis 1941 lässt Heinz Salomon sich in Berlin als Schweißer und Schlosser ausbilden. Diese Berufe gelten als kriegswichtig und er hofft, so einer Deportation zu entgehen. Im Mai 1941 kehrt Heinz Salomon zu seiner Frau nach Kiel zurück. Dort wird auch er verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Nach dem Krieg beschreibt er, dass es für ihn eine große Belastung gewesen sei, mit einer solchen Markierung in Kiel durch die Straßen gehen zu müssen. Zudem sei er ständig in Angst wegen einer drohenden Verhaftung gewesen. Ab Februar 1942 muss er als Schweißer bei einer Kieler Firma Zwangsarbeit leisten. 

Am 13. Februar 1945 werden Heinz Salomons Ängste Wirklichkeit. Er wird verhaftet und mit dem letzten aus Schleswig-Holstein abgehenden Transport nach Theresienstadt gebracht. Die Befreiung durch die Alliierten erlebt er dort. Anstatt auf den offiziellen Rücktransport nach Kiel zu warten, schlägt er sich alleine nach Hause durch. Abgemagert und schwerkrank erreicht er am 16. Juni 1945 Kiel. Er erfährt, dass seine Mutter in Theresienstadt verhungert und sein Bruder in einem Außenlager von Auschwitz ermordet worden ist.

Doch Heinz Salomon macht weiter. Er wird der Vorsitzende des Kieler Jüdischen Komitees und wird von den Briten als Leiter der „Jüdischen Wohlfahrtspflege Schleswig-Holstein“ eingesetzt. Die ist bis 1960 die offizielle Interessensvertretung der jüdischen Gemeinschaft. Gemeinsam mit seinem guten Freund Norbert Wollheim ist er der Vertreter der jüdischen Belange gegenüber den deutschen und britischen Behörden. 

Im Mai 1947 stirbt Heinz Salomons Frau. Er lässt sich von diesem Schicksalsschlag nicht entmutigen und baut sich in seiner Heimatstadt Kiel eine neue Existenz auf. Neben seinem unermüdlichen Einsatz für die Überlebenden, findet er einige Jahre später auch privat ein neues Glück. Er lernt die nichtjüdische Ilse Pflanz kennen.

Ilse Pflanz wird am 27. März 1925 in Stettin (Oder) als Tochter von Arthur und Else Pflanz geboren. Sie wächst mit ihren beiden jüngeren Geschwistern in Stettin auf. Im Januar 1945 flieht sie entlang der Ostseeküste nach Niendorf in Schleswig-Holstein. Dort trifft sie ihre Mutter und ihre Geschwister wieder, von denen sie vorher getrennt worden war. Der Vater ist in russischer Kriegsgefangenschaft und kehrt erst spät nach Hause zurück. Zunächst lebt die Familie in Niendorf in einem Keller bei Ortsansässigen. Später berichtet sie über diese Zeit, dass die Wände in diesem Keller voller Eis gewesen, die Kienäpfel in der Brennhexe nie aufgetaut seien und die drei Geschwister zusammen mit der Mutter in einem Bett geschlafen hätten. Zum Zudecken diente der Mantel der Mutter. Über die Kälte hätte sie den Hunger vergessen. Die Situation bessert sich als Ilse Salomon 1946 eine Arbeit in einem Hotel am Timmendorfer Strand bekommt. Hier lernt sie Heinz Salomon kennen, der sich um eine dort untergebrachte Gruppe ehemaliger jüdischer KZ-Häftlinge kümmert. 

Am 25. Juni 1953 heiraten die beiden in Kiel. Ilse Salomon unterstützt ihren Mann ab diesem Zeitpunkt bei seiner Arbeit für die jüdischen Überlebenden mit Schreib- und Büroarbeiten und leistet auch seelsorgerische Unterstützung. 1960 wird Heinz Salomon zum Vorsitzenden der „Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein e.V.“ gewählt. Seine Frau ist gleichzeitig Protokollschreiberin bei den Vorstandssitzungen des Vereins. 1960 schlägt Heinz Salomons Sekretärin ihn im Namen der jüdischen Gemeinschaft für das Bundesverdienstkreuz vor. Kurze Zeit später verleiht ihm Bundespräsident Heinrich Lübke (CDU) die staatliche Auszeichnung als Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits schwerkrank. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich über die Jahre zusehends. Am 18. Oktober 1969 stirbt Heinz Salomon. 

Ilse Salomon bleibt der jüdischen Gemeinschaft verbunden und vertritt weiterhin Menschen in Wiedergutmachungsangelegenheiten. In den 1970er und 1980er Jahren übernimmt sie Verwaltungsarbeiten für die Jüdische Gemeinde Hamburg. 1985 geht sie in den Ruhestand. 1999 wird sie durch Bundespräsident Herzog für ihre Verdienste für die jüdische Gemeinschaft geehrt. 2006 verlässt sie aus gesundheitlichen Gründen notgedrungen den von ihr geliebten Norden und zieht nach Krailling im Landkreis Starnberg in Bayern um. Dort ist sie näher bei ihren Verwandten, die sich um sie kümmern. Kurze Zeit später verstirbt Ilse Salomon in München.

Anmerkung: In unseren Texten sind manche Worte in sogenannte einfache Anführungszeichen (‚Wort‘) gesetzt. Viele von ihnen wurden zur Zeit des Nationalsozialismus und für die Verbreitung der menschenverachtenden Weltanschauung erfunden oder genutzt. Wir verwenden sie, um vielschichtige Themen verständlich zu zeigen. Auch die Worte ‚jüdisch‘ oder ‚Jude‘ gehören dazu, wenn sie im Text als nationalsozialistische Zuschreibungen gemeint sind.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Heinz und Ilse Salomon, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 94-99.

Norbert Wollheim hält eine Rede bei der Einweihung des jüdischen Friedhofs in Lübeck, 1948. (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
Norbert Wollheim hält eine Rede bei der Einweihung des jüdischen Friedhofs in Lübeck, 1948. (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
„Wir sind gerettet, aber nicht befreit!“
Norbert Wollheim spricht auf einer Kundgebung gegen die milde Verurteilung eines NS-Kriegsverbrechers, 1947. (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim) Norbert Wollheim spricht auf einer Kundgebung gegen die milde Verurteilung eines NS-Kriegsverbrechers, 1947. (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
Peter und Ruth Wollheim 1951 (Privatbesitz) Peter und Ruth Wollheim 1951 (Privatbesitz)
Die Verabschiedung der Familie Wollheim am Flughafen, 1951 (Jüdisches Museum) Die Verabschiedung der Familie Wollheim am Flughafen, 1951 (Jüdisches Museum)
Peter Wollheim, Juni 1961 (Privatbesitz) Peter Wollheim, Juni 1961 (Privatbesitz)
Mitglieder des Zentralkomitees der befreiten Juden der britischen Zone in Bergen-Belsen. 5. v. l. Norbert Wollheim, 1947 (Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem. 1201/15719) Mitglieder des Zentralkomitees der befreiten Juden der britischen Zone in Bergen-Belsen. 5. v. l. Norbert Wollheim, 1947 (Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem. 1201/15719)
Norbert Wollheim
1913 (Berlin) -1998 (New York)

Norbert Wollheim wird am 26. April 1913 als jüngstes von zwei Kindern in Berlin geboren. Seine Eltern, Handelsvertreter und Hausfrau, waren aus der Gegend um Posen nach Berlin gekommen. Nach seinem Abitur beginnt Norbert Wollheim ein Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaftslehre. 1933 muss er es aufgrund seiner jüdischen Herkunft abbrechen. Er beginnt in einer Firma zu arbeiten, die Waren ins Ausland verkauft. Nebenher arbeitet er ehrenamtlich in verschiedenen jüdischen Einrichtungen. Im Herbst 1941 wird er zur Zwangsarbeit verpflichtet. In dieser Zeit lernt er Heinz Salomon kennen. 

Norbert Wollheim lebt mit seiner Frau Rosa und seinem Sohn Uriel Peter in einem Zimmer in einem Arbeiterwohnhaus in Berlin-Halensee. Die beiden Erwachsenen sind verpflichtet den gelben Stern zu tragen. Sie müssen von den wenigen Lebensmitteln leben, die Jüdinnen und Juden zugeteilt werden. Ihr Leben wird bestimmt von einer Vielzahl von Verboten und Vorschriften. Nachdem Norbert Wollheim zunächst als Schweißer arbeitet, wird er im Oktober 1941 einer Munitionsfabrik zugeteilt. Dort besteht seine Arbeit, im Tragen von Roheisenblöcke und Stahlblechen.

Zur gleichen Zeit beginnen die Massendeportationen aus Berlin. Während Angehörige von Norbert Wollheim bereits 1941 deportiert werden, rettet ihn seine Ausbildung als Schweißer, die noch gebraucht wird. Im Dezember 1942 werden die Eltern von Norbert Wollheim verhaftet, kurze Zeit später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 

Am 8. März 1943 werden die Wollheims ebenfalls verhaftet. Zusammen mit seiner Frau Rosa und seinem Sohn Uriel Peter, der erst drei Jahre und drei Monate alt ist, wird Norbert Wollheim am 12. März 1943 in Eisenbahnwaggons verladen. Am 13. März 1943 kommt die Familie in Auschwitz an. Während Norbert Wollheim bei der Selektion an der Rampe zur Arbeit ausgewählt wird, werden seine Frau, sein Sohn und seine Schwester direkt nach der Ankunft ermordet.

Norbert Wollheim wird zur Zwangsarbeit im Nebenlager von Auschwitz in der I.G. Farben Fabrik gezwungen. Dort bleibt er bis Auschwitz im Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert wird. Zunächst zu Fuß, später in einem Güterzug, werden die Häftlinge Richtung Westen getrieben. Wer keine Kraft mehr hat, wird von der SS erschossen. Norbert Wollheim beschließt, zusammen mit einigen Freunden zu fliehen. Sie befinden sich in der Nähe von Schwerin und es gelingt ihnen die Linie der amerikanischen Truppen zu erreichen.

Von dort aus kommt Norbert Wollheim nach Lübeck. Dort setzt er sich für die jüdischen Überlebenden ein und hilft beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde. In diesem Zusammenhang gelangt er auch in das DP-Lager Bergen-Belsen. Dort trifft er Friedel Löwenberg, die er aus Berlin kennt. Die beiden heiraten im März 1947 in Bergen-Belsen, wohnen aber in Lübeck. Dort werden auch die zwei Kinder des Ehepaars geboren.

In der Folgezeit wird Norbert Wollheim zu einer führenden Persönlichkeit der Juden in der britischen Zone und später in ganz Deutschland. Er wird Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Lübeck und ab September 1945 zweiter Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone. Dieses Komitee wird als offizielle Vertretung der befreiten Jüdinnen und Juden in der britischen Zone anerkannt. 1950 ist Norbert Wollheim einer der Mitbegründer der Jewish Trust Corporation der britischen Zone und des Zentralrats der Juden in Deutschland

1951 reicht Norbert Wollheim beim Landgericht Frankfurt am Main Klage gegen die I.G. Farben ein, für die er in Auschwitz Zwangsarbeit leisten musste. Er verklagt sie auf Schmerzensgeld und Entschädigung für den ihm entgangenen Arbeitslohn. Das anschließende Verfahren dauert knapp zwei Jahre. Das Gericht gibt Norbert Wollheim am 10. Juni 1953 Recht und verurteilt die I.G. Farben zur Zahlung von 10 000 DM. Der Sieg Wollheims geht dabei weit über eine persönliche Entschädigung hinaus. In der Folge werden insgesamt 30 Millionen DM an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der I.G. Farben gezahlt.

Norbert Wollheim und seine Familie leben zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in Deutschland. 1951 wandern sie in die USA aus. Dort beginnt Norbert Wollheim ein Abendstudium im Fach Rechnungswesen, während er tagsüber als Buchhalter arbeitet. Nach vier Jahren beendet er das Studium und arbeitet im Anschluss als Wirtschaftsprüfer. Nebenher übt er verschiedene Ehrenämter für Überlebendenorganisationen aus. In seinem Wohnort New York/Fresh Meadows führt er viele Jahre den Vorsitz der jüdisch-konservativen Gemeinde. Die Familie bleibt ein Leben lang in engem Kontakt mit Ilse und Heinz Salomon. Norbert Wollheims Frau Friedel stirbt 1977. Norbert Wollheim lebt bis zu seinem Tod 1998 in New York.

Anmerkung: In unseren Texten sind manche Worte in sogenannte einfache Anführungszeichen (‚Wort‘) gesetzt. Viele von ihnen wurden zur Zeit des Nationalsozialismus und für die Verbreitung der menschenverachtenden Weltanschauung erfunden oder genutzt. Wir verwenden sie, um vielschichtige Themen verständlich zu zeigen. Auch die Worte ‚jüdisch‘ oder ‚Jude‘ gehören dazu, wenn sie im Text als nationalsozialistische Zuschreibungen gemeint sind.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Norbert Wollheim, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 48-53.

Emil Wolff 1939 (Stadtarchiv Friedrichstadt)
Emil Wolff 1939 (Stadtarchiv Friedrichstadt)
„In Gedanken bin ich oft in unsere lütte, schöne Friestadt.“
Emil Wolff beim Schulsport, 4.v.l. (Stadtarchiv Friedrichstadt) Emil Wolff beim Schulsport, 4.v.l. (Stadtarchiv Friedrichstadt)
Emil Wolff
1917 (Hackenbroich) – 1999 (Asunción/Paraguay)

Emil Wolff kommt am 14. Juni 1917 in Hackenbroich als Sohn von Willy und Thekla Wolff, geb. Franken zur Welt. Seine ältere Schwester Johanna wurde 1911 geboren. Die Familie zieht 1917 gemeinsam nach Friedrichstadt, der Heimatstadt des Vaters. Dort kommen fünf weitere Schwestern zur Welt. Der Vater arbeitet als Handelsvertreter. Sein Einkommen erlaubt es der Familie, ein gutbürgerliches Leben zu führen. Emil Wolff kommt 1923 in die Schule. Nach neun Jahren macht er seinen Schulabschluss und wird Schlachtergeselle.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sind die Wolffs im überschaubaren Friedrichstadt ständig größeren und kleineren Schikanen ausgesetzt. Wie viele andere auch, hoffen sie, in einer Großstadt weniger aufzufallen. Daher geht Emil Wolff bereits im Oktober 1937 nach Hamburg. Seine Familie hingegen bleibt noch in der Heimatstadt, da es Willy Wolff durch seine Arbeit immer noch möglich ist, der Familie ein Auskommen zu bieten. 

Das ändert sich ab 1938. Während des Pogroms in der Nacht vom 9. auf den 10. November, dringen SA-Leute in die Wohnung der Familie Wolff ein. Emil Wolff, der gerade bei seinen Eltern ist, und sein Vater werden verhaftet. Zunächst bringt die Polizei sie in das Gefängnis in Flensburg. Von dort aus werden sie in das Konzentrationslager Sachsenhausen geschickt. Erst nach einigen Wochen kommen sie wieder frei. Willy Wolff wird daraufhin zur Zwangsarbeit im Straßenbau gezwungen. 

Im Juni 1940 entscheidet sich auch die restliche Familie für den Umzug nach Hamburg. Emil Wolffs Eltern und eine seiner Schwestern mit ihrer Familie werden im November nach Minsk deportiert und dort ermordet. Seinen vier anderen Schwestern gelingt es nach England zu entkommen.

Emil Wolff hat dagegen nicht das Glück, das Land verlassen zu können. 1939 taucht er in Kiel unter und arbeitet dort im Seeschlachthof. Anfang 1940 fliegt er auf. Emil Wolff flieht zur dänischen Grenze. Dort wird er gestellt, schwer misshandelt und in das Kieler Gefängnis gebracht. In einem anschließenden Sondergerichtsverfahren verurteilt ihn das Gericht zu acht Jahren Zuchthaus. Als Tatbestand wird ihm ‚Rassenschande‘ vorgeworfen. Ob er eine Beziehung zu einer ‚arischen‘ Person unterhielt, ist nicht bekannt. In der Folgezeit wird Emil Wolff erst nach Esterwegen, dann nach Auschwitz deportiert. Dort wird er gezwungen, im sogenannten Sonderkommando zu arbeiten. 

Von Auschwitz aus schickt die SS Emil Wolff nach Dachau. Dort wird er am 2. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Im August 1945 kehrt er nach Friedrichstadt zurück. Ihm wird eine Unterkunft in der ehemaligen Synagoge zugewiesen.

Offensichtlich versucht Emil Wolff zunächst an sein vorheriges Leben anzuknüpfen. Er heiratet die fünf Jahre jüngere Genia Hechter aus Litauen. Am 8. August 1947 kommt ihr erster Sohn zur Welt. Sie benennen ihn nach Emil Wolffs Vater Willy. Auch der zweite Sohn Jacob wird am 6. Juli 1950  in der ehemaligen Synagoge geboren. 1947 wird Emil Wolff wie sein Vater Mitglied der traditionsreichen Ringreitergilde von 1812 in Friedrichstadt. 1949 gelingt es ihm, König im Ringreiten zu werden. An diese Zeit scheint er sich auch später gerne zu erinnern. In einem Brief von 1985 schreibt er: „Wenn die Reise nicht so teuer wäre, würde ich gerne mal wieder bei Euch sein, am liebsten zum Ringreiten, ich wünsche den lieben Ringreitern viel, viel Spass [sic!] und ‚gut Ring‘!“[1]

Im September 1950 legt Emil Wolff vor der Handwerkskammer zu Flensburg seine Prüfung als Schlachtermeister ab. Unmittelbar danach verlässt die Familie Friedrichstadt im Januar 1951, um nach Paraguay auszuwandern. Es ist davon auszugehen, dass die Planungen für den Neustart in der Ferne schon lange vorher begonnen hatten und die Wolffs einige Zeit auf ihre Visa warten mussten. 

Emil Wolff hält den Kontakt zu einem Freund aus Friedrichstadt aufrecht und erinnert sich 1985 an seine alte Heimat: „In Gedanken bin ich oft in unsere lütte, schöne Friestadt.“[2]
1982 besucht er gemeinsam mit seiner Frau den Ort seiner Kindheit. Zu einem Zusammentreffen mit den Verantwortlichen der Stadt kommt es nicht. Allerdings trifft er seinen Freund Herman H. Enttäuscht stellt er 1990 in einem Brief an den Friedichstädter Stadtarchivar fest, dass seine Cousine nach Friedrichstadt eingeladen worden sei. Er selber habe aber „bis heute […] noch keine Einladung von der Landesregierung bekommen“. Etwas zynisch fügt er hinzu „aber was nicht ist, kann ja werden!“ Emil Wolff verstirbt 1999 in Asunción in Paraguay.

[1] Stadtarchiv Friedrichstadt, W18, Brief Emil Wolff an H. H. vom 14. Juni 1985, Bl. 28.
[2] Stadtarchiv Friedrichstadt, W18, Brief Emil Wolff an H. H. vom 14. Juni 1985, Bl. 28.

Anmerkung: In unseren Texten sind manche Worte in sogenannte einfache Anführungszeichen (‚Wort‘) gesetzt. Viele von ihnen wurden zur Zeit des Nationalsozialismus und für die Verbreitung der menschenverachtenden Weltanschauung erfunden oder genutzt. Wir verwenden sie, um vielschichtige Themen verständlich zu zeigen. Auch die Worte ‚jüdisch‘ oder ‚Jude‘ gehören dazu, wenn sie im Text als nationalsozialistische Zuschreibungen gemeint sind.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Emil Wolff, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 72-75.

Forschung zu Täterinnen und Täter

Es gibt viele Schulprojekte, die sich mit den Biografien von Menschen beschäftigen, die zu Opfern geworden sind. Beispielweise erforschen Schüler:innen die Biografien für Stolpersteinverlegungen. Nur selten geht es dabei um die eigene Familiengeschichte. Diese aufzuarbeiten, könnte jedoch helfen, einen eigenen Bezug zur NS-Zeit und zur Shoah zu finden und sich wirklich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Welche Geschichten werden in deiner Familie erzählt? Hast du Lust bei deinen Eltern und Großeltern nachzufragen? Falls deine Familie zur NS-Zeit nicht in Deutschland gelebt hat, weißt du, ob diese Zeit für deine Eltern oder Großeltern eine Bedeutung hat?

Gedenkwand Jüdisches Museum

Im Innenhof des Jüdischen Museums findet ihr eine Gedenkwand. Dort stehen auf Steintafeln die Namen der Menschen, die einen Bezug zu Rendsburg haben und während der NS-Zeit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und größtenteils ermordet worden sind. Die Lebensgeschichten der Personen könnt ihr in einem Gedenkbuch nachlesen.  
Die Gedenkwand ist in den 1980er-Jahren entstanden. Unglaublich für uns heute: Die Namen der meisten zu Opfern gewordenen Menschen waren damals noch unbekannt und mussten zunächst recherchiert werden.  
Es befinden sich auch Namen von Menschen an der Wand, die sich selbst nicht als jüdisch definiert haben. Die Nationalsozialisten haben sie durch ihre Rassentheorie dazu gemacht.

Wally Mahrt
Wally Mahrt
1910 (Rendsburg) – 1979 (Rendsburg)
Wally Mahrt
Wally Mahrt
1910 (Rendsburg) – 1979 (Rendsburg)

„Ohne eigene Mittel, ohne Ausweispapiere und Lebensmittelkarten war ich für die Öffentlichkeit wie für die Behörden gestorben.“

Wally Mahrt wird 1910 als Wally Aurelia Gortatowski geboren. Ihre Familie, zu der ihre Eltern und zwei ältere Brüder zählen, gehört der Jüdischen Gemeinde Rendsburg an.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Durch ihren Bruder lernt Wally in den 1930er Jahren den nichtjüdischen Rendsburger Erich Mahrt, einen überzeugten Kommunisten und KPD-Mitglied, kennen. Die beiden werden ein Paar, können aber aufgrund der „Nürnberger Rassengesetze“ nicht heiraten.

1933 wird das Geschäft der Gortatowskis von den Nationalsozialisten boykottiert. Immer weniger Menschen kaufen bei ihnen ein, so dass die Wally und ihr Bruder das Geschäft verkaufen müssen. Wally zieht daraufhin zunächst nach Itzehoe zu ihrer Tante. Im September 1939 geht die Familie nach Berlin, um in der Großstadt Schutz zu suchen und mit anderen Familienmitgliedern zusammen zu sein. Anfang 1940 kommt Erich Mahrt ebenfalls nach Berlin und arbeitet als Elektriker in einem kriegswichtigen Betrieb. Wally muss Pflichtarbeit bei Siemens & Halske in Charlottenburg leisten. Das Paar scheint geahnt zu haben, dass die Situation für Jüdinnen und Juden noch gefährlicher werden würde: Erich Mahrt mietet ein Gartenhäuschen in einer Laubenkolonie.

Als Wally im Dezember 1942 von einem Verwandten erfährt, dass sie deportiert werden soll, bringt Erich sie in die Gartenlaube. Unter schwierigsten Bedingungen versteckt sie sich dort bis Kriegsende. Ständig bedroht von Razzien und ohne Schutz vor Luftangriffen der Alliierten lebt Wally dort 880 Tage in ständiger Gefahr. Gemeinsam zehren Wally und Erich von seinen spärlichen Lebensmittelrationen. Das Leben im Versteck hinterlässt dauerhafte körperliche und seelische Schäden.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Nach Kriegsende heiraten Wally und Erich Mahrt am 28. Juli 1945 in Berlin.

Ende 1946 kommt ihr Sohn zur Welt und wird dort in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen. 1949 geht die Familie zurück nach Rendsburg – allerdings nur für wenige Monate, denn im Spätsommer 1949 wandern die Mahrts, unterstützt von der Hebrew Immigrant Aid Society, nach Argentinien aus. Erich baute sich dort eine Existenz als Elektrotechniker auf.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
Familie Mahrt in Berlin, 1948 (Jüdisches Museum)
Familie Mahrt in Berlin, 1948 (Jüdisches Museum)
Verabschiedung der Familie Mahrt nach einem Deutschland-Besuch, März 1962 (Jüdisches Museum)
Verabschiedung der Familie Mahrt nach einem Deutschland-Besuch, März 1962 (Jüdisches Museum)

Wie viele andere Verfolgte auch besuchen die Mahrts Deutschland mehrere Male, auch um ihre Wiedergutmachungsangelegenheiten zu regeln. Allerdings werden die schweren gesundheitlichen Schäden, insbesondere die seelischen, die sich in den Jahren nach dem Krieg noch verstärkten, niemals als verfolgungsbedingt anerkannt. Im Rentenalter ziehen die Mahrts 1976 nach Rendsburg zurück, auch, weil der Sohn dort einen beruflichen Neustart wagt. Leider gelingt es ihnen nicht, in ihrer alten Heimatstadt wieder heimisch zu werden. Bis auf eine Freundin ist keiner der ehemaligen Bekannten mehr dort, von der vormals großen Familie Gortatowski war bereits nach dem Nationalsozialismus keiner mehr in Rendsburg übrig.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Es ist davon auszugehen, dass die Erfahrung der Verfolgung Wally Mahrt bis ins hohe Alter nicht loslässt und sie irgendwann zur Aufgabe zwingt. Ein Weiterleben kommt für sie nicht mehr infrage. Am 7. Oktober 1979 nimmt sich Wally Mahrt das Leben. In einem Abschiedsbrief bedankt sie sich bei Erich für alles, was er für sie getan hat. Dieser stirbt neun Jahr später im Alter von 78 Jahren.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Wally Mahrt, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 60-65.
Gertrud Eickhorst
Georg Chaikin
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über das Gedenken
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte
Salein-Hirt
1891 (Kiel) – 1952 (Kiel)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Käte
Salein-Hirt
1891 (Kiel) – 1952 (Kiel)

Käte Salein-Hirt, geb. Hirsch, wird am 20. Januar 1891 in Kiel geboren. Von 1897 bis 1905 besucht sie dort die städtische Mädchenschule (heute Ricarda-Huch-Schule). 1914 schließt sie erfolgreich eine zweijährige Schauspielausbildung am Staatstheater Hamburg ab. Direkt im Anschluss erhält sie erste Engagements an verschiedenen Theatern in ganz Deutschland. Ihre beginnende Karriere wird mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt beendet. Sie erhält Berufsverbot, weil sie als ‚Halbjüdin‘ gilt, obwohl sie sich selbst nicht als jüdisch definiert. Käte Salein-Hirt schlägt sich in den folgenden Jahren mit Gelegenheitsarbeiten durch. Die Kriegsjahre verbringt sie gemeinsam mit ihrer Tochter Rosemarie, die am 13. September 1920 in Bremerhaven geboren wird, in Kiel. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, der von den Nationalsozialisten als ‚Arier‘ definiert wird.

Auftritt Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
Auftritt Käte Salein-Hirt, vor 1933 (Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)
An Käte Salein-Hirt verliehene Theaterschärpe (Jüdisches Museum)

Nach dem Krieg versucht Käte Salein-Hirt alles, um an ihr Leben vor 1933 anzuknüpfen.

Sie will unbedingt wieder auf der Bühne stehen und muss zudem in der schwierigen Nachkriegszeit dringend Geld verdienen, um sich und ihre Tochter zu versorgen. Für die Spielzeit 1946/47 wird sie aushilfsweise am Stadttheater Kiel engagiert, für das folgende Jahr erhält sie sogar einen festen Vertrag.

Die Freude ist allerdings nicht von langer Dauer – im Januar 1947 wird sie wieder entlassen. Das städtische Theater begründet die Kündigung mit „künstlerischen Gründen“, Käte Salein-Hirt sieht allerdings ein anderes Motiv des Theaters: Die Bevorzugung einer Kollegin, die ihrer Angabe nach in NS-Organisationen tätig gewesen sei. Käte Salein-Hirt kämpft um ihre Wiedereinstellung. Sie schreibt an das Innenministerium:

„Ich brauche wohl nicht zu betonen, welchen Schrecken ich als Halbjüdin während der Nazi-Zeit ausgesetzt war, und ich wünsche nur, dass der Zustand von 1933 wiederhergestellt wird, also dass ich meinen künstlerischen Beruf wieder ausüben kann. Das Stadttheater Kiel hat bisher noch keinen Beitrag zur Wiedergutmachung geleistet, trotzdem es dazu wohl in der Lage wäre, und ich bitte ergebenst dem Theater aufzuerlegen, dass ich wieder eingestellt werde.“

Käte Salein-Hirt als „die komische Alte“ (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt als „die komische Alte“ (Jüdisches Museum)

Dass Innenministerium schreibt ihr dazu, „dass Ihre Wiederverwendung als Schauspielerin nicht möglich ist, da Sie den an eine Schauspielerin zu stellenden künstlerischen Anforderungen nicht mehr entsprechen.“ Stattdessen wird ihr eine Stelle in der Verwaltung des Theaters angeboten – eine Alternative, die für die Schauspielerin nicht infrage kommt.

Sie reagiert, indem sie den Ministerpräsidenten Hermann Lüdemann in einem Schreiben um Unterstützung bittet und auf die ihr widerfahrene Verfolgung im Nationalsozialismus verweist: Sieben ihrer Verwandten seien in einem Konzentrationslager ermordet worden und nun würde ihr gesagt, dass sie zu alt sei, um auf der Bühne zu stehen. Direkt nach Kriegsende sei die Beurteilung ihrer Person anders ausgefallen. Da habe sie die Rückmeldung bekommen, dass sie „noch gut aussieht“ und „eine gute künstlerische Leistung“ erbringe. Nun sei ihr auch das wieder genommen worden und das alles zu Gunsten der NS-Frau. Zum Ende des Schreibens beklagt sie, dass niemand ihr die zwölf Jahre wiedergeben könne. Außerdem stehe für sie außer Frage, dass sie noch geeignet sei als „Mütterspielerin und komische Alte“. Ob sie eine Antwort von Lüdemann erhält, ist nicht klar.

Das Innenministerium veranlasst eine „Begutachtung der künstlerischen Leistung“.

Das Innenministerium veranlasst allerdings eine „Begutachtung der künstlerischen Leistung“ von Käte Salein-Hirt, die im Dezember 1947 am Theater in Flensburg stattfindet. Die vier begutachtenden Männer, die allesamt während der NS-Zeit tätig waren, teilweise sehr früh NSDAP-Mitglieder wurden und auch in ihrer künstlerischen Arbeit durch judenfeindliche Darstellungen auffielen, entscheiden gegen Käte Salein-Hirt. Es lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, wie das Vorsprechen damals wirklich gelaufen ist. Jedoch ist die schlechte Beurteilung der Schauspielerin, im Vergleich zu ihrer Vorkriegskarriere, auffällig.

Käte Salein-Hirt, nach 1945 (Jüdisches Museum)
Käte Salein-Hirt, nach 1945 (Jüdisches Museum)

Über ihr weiteres Schicksal ist wenig bekannt. Ab 1949 bezieht sie Arbeitslosenfürsorge, sie stellt außerdem einen Antrag auf ‚Wiedergutmachung‘, um eine Rente zu bekommen. Vor dem Abschluss des Verfahrens verstirbt sie jedoch 1952.

Quelle: Jonas Kuhn: Käte Salein-Hirt, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 118-123.
Norbert Wollheim
Norbert Wollheim
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über das Gedenken
Benjamin „Bolek“ Gruszka
Benjamin
„Bolek“
Gruszka
1925 (Warschau) – 2020 (Israel)
Benjamin „Bolek“ Gruszka
Benjamin
„Bolek“
Gruszka
1925 (Warschau) – 2020 (Israel)

Benjamin „Bolek“ Gruszka wird am 5. Mai 1925 in Warschau geboren. 1938 feiert Benjamin seine Bar Mizwa und beginnt eine Lehre als Goldschmied. Als die deutsche Wehrmacht 1939 Polen besetzt, ändert sich sein Leben schlagartig. Im Oktober 1940 richten die deutschen Besatzer am Wohnort der Familie das berüchtigte Warschauer Ghetto ein. Mitte November wird das Ghetto abgeriegelt, bei Verlassen droht die Todesstrafe. Immer mehr Menschen werden dorthin gebracht, bis auf engstem Raum 400 000 polnische Jüdinnen und Juden zusammengepfercht sind. Die Lebensbedingungen sind katastrophal: Krankheiten breiten sich aus, die Lebensmittelversorgung ist sehr schlecht. Die Sterblichkeitsrate ist extrem hoch – überleben kann nur, wer lernt sich anzupassen, sich zu verstellen und zu „organisieren“.

Der fünfzehnjährige Benjamin schmuggelt illegal Waren in das Ghetto, um seine Familie zu ernähren. Nach einiger Zeit wird er dabei erwischt und verhaftet, doch es gelingt seinem Vater durch Kontakte und Bestechung, ihn wieder freizubekommen. Im Juli 1942 beginnen die Deportationen in die Vernichtungslager – beim ersten Transport ist auch Benjamin Gruszkas Vater dabei. Jetzt muss Benjamin allein für seine Mutter und die fünf Geschwister sorgen.

Im Januar 1943 wird die Familie auseinandergerissen: Benjamin Gruszkas gesamte verbleibende Familie wird nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Er selbst kann sich durch Untertauchen der Festnahme entziehen.

Als das Ghetto drei Monate später gewaltsam aufgelöst wird und alle Bewohner:innen deportiert oder vor Ort ermordet werden, schafft er es zu entkommen. Die folgenden zwei Jahre verbringt er mit einer jüdischen Partisanengruppe. Nach dem Ende des Krieges, das er in Lublin erlebt, kehrt er zunächst in seine völlig zerstörte Heimatstadt zurück, um seine Familie zu suchen. Doch niemand hat überlebt.

Holocaust-Überlebende auf dem Hof vor der Lübecker Synagoge.
			Mit Ziehharmonika: Benjamin Gruszka, 1946(Jüdisches Museum)
Holocaust-Überlebende auf dem Hof vor der Lübecker Synagoge.
Mit Ziehharmonika: Benjamin Gruszka, 1946 (Jüdisches Museum)
Benjamin Gruszka bei seiner Arbeit als Übersetzer im Lager Pöppendorf, 1947 (Jüdisches Museum)
Benjamin Gruszka bei seiner Arbeit als Übersetzer im Lager Pöppendorf, 1947 (Jüdisches Museum)
Hochzeit Benjamin Gruszka, 1960 (Jüdisches Museum)
Hochzeit Benjamin Gruszka, 1960 (Jüdisches Museum)

Eine neue Identität

Die Bricha, eine jüdische Fluchthelferorganisation, beauftragt Gruszka, in Lübeck einen Stützpunkt einzurichten. Er nimmt eine neue Identität an und kommt im Mai 1946 in Lübeck an. Seine Hauptaufgabe besteht darin, jüdische „Infiltrees“ aus Polen mit falschen Papieren auszustatten und ihre illegale Weiterreise nach Palästina zu ermöglichen. Als Infiltrees wurden Jüdinnen und Juden bezeichnet, die die Befreiung in Osteuropa erlebt und wegen der schwierigen Situation und des starken Antisemitismus vor Ort in die westlichen Besatzungszonen flüchteten. Zwischen Sommer 1946 und 1947 schleusen er und seine Helfer nach eigenen Angaben über 15 500 Menschen nach Palästina, in erster Linie Überlebende der Shoah. Mit der Gründung Israels im Mai 1948 ist Boleks Arbeit für die Bricha offiziell beendet.

Die „Exodus“ im Hafen von Haifa, Juli 1947 (Israel Government Press Office)
Die „Exodus“ im Hafen von Haifa, Juli 1947 (Israel Government Press Office)

“Ich bin ja hier nur hängengeblieben.”

Er lässt sich in Lübeck nieder und betreibt dort verschiedene Geschäfte. 1960 eröffnet er die erste Diskothek der Stadt, weitere folgen. Im selben Jahr heiratet er die 1938 geborene Jüdin Nina, die aus Birobidjan in Sibirien stammt. Mit ihr hat er zwei Töchter. Bolek zählt im April 1968 zu den Gründungsmitgliedern der Jüdischen Gemeinschaft in Schleswig-Holstein. In Israel wird er 1987 als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus ausgezeichnet, bekommt im Jahr darauf die Verdienstnadel von Yad Vashem und erhält 1995 die höchste Auszeichnung als jüdischer Kämpfer.

In Deutschland bleibt ihm eine ähnliche Anerkennung zu Lebzeiten verwehrt. Benjamin Gruszka zieht 2011 mit seiner Frau nach Israel. 2020 verstirbt er nach langer Krankheit. Seine Kinder erhalten Kondolenzbekundungen von Menschen auf der ganzen Welt, die nach all den Jahren nicht vergessen haben, was Benjamin „Bolek“ Gruszka für sie getan hat. In Zeitungsberichten wird an Benjamin Gruszkas Einsatz für seine jüdischen Mitmenschen erinnert.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Benjamin Gruszka, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 76-81.
Pinkus und Rena Olstein
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über das Gedenken
Wally Mahrt
Wally Mahrt
1910 (Rendsburg) – 1979 (Rendsburg)
Wally Mahrt
Wally Mahrt
1910 (Rendsburg) – 1979 (Rendsburg)

„Ohne eigene Mittel, ohne Ausweispapiere und Lebensmittelkarten war ich für die Öffentlichkeit wie für die Behörden gestorben.“

Wally Mahrt wird 1910 als Wally Aurelia Gortatowski geboren. Ihre Familie, zu der ihre Eltern und zwei ältere Brüder zählen, gehört der Jüdischen Gemeinde Rendsburg an.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Durch ihren Bruder lernt Wally in den 1930er Jahren den nichtjüdischen Rendsburger Erich Mahrt, einen überzeugten Kommunisten und KPD-Mitglied, kennen. Die beiden werden ein Paar, können aber aufgrund der „Nürnberger Rassengesetze“ nicht heiraten.

1933 wird das Geschäft der Gortatowskis von den Nationalsozialisten boykottiert. Immer weniger Menschen kaufen bei ihnen ein, so dass die Wally und ihr Bruder das Geschäft verkaufen müssen. Wally zieht daraufhin zunächst nach Itzehoe zu ihrer Tante. Im September 1939 geht die Familie nach Berlin, um in der Großstadt Schutz zu suchen und mit anderen Familienmitgliedern zusammen zu sein. Anfang 1940 kommt Erich Mahrt ebenfalls nach Berlin und arbeitet als Elektriker in einem kriegswichtigen Betrieb. Wally muss Pflichtarbeit bei Siemens & Halske in Charlottenburg leisten. Das Paar scheint geahnt zu haben, dass die Situation für Jüdinnen und Juden noch gefährlicher werden würde: Erich Mahrt mietet ein Gartenhäuschen in einer Laubenkolonie.

Als Wally im Dezember 1942 von einem Verwandten erfährt, dass sie deportiert werden soll, bringt Erich sie in die Gartenlaube. Unter schwierigsten Bedingungen versteckt sie sich dort bis Kriegsende. Ständig bedroht von Razzien und ohne Schutz vor Luftangriffen der Alliierten lebt Wally dort 880 Tage in ständiger Gefahr. Gemeinsam zehren Wally und Erich von seinen spärlichen Lebensmittelrationen. Das Leben im Versteck hinterlässt dauerhafte körperliche und seelische Schäden.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Nach Kriegsende heiraten Wally und Erich Mahrt am 28. Juli 1945 in Berlin.

Ende 1946 kommt ihr Sohn zur Welt und wird dort in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen. 1949 geht die Familie zurück nach Rendsburg – allerdings nur für wenige Monate, denn im Spätsommer 1949 wandern die Mahrts, unterstützt von der Hebrew Immigrant Aid Society, nach Argentinien aus. Erich baute sich dort eine Existenz als Elektrotechniker auf.

(Jüdisches Museum)
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(Jüdisches Museum)
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Familie Mahrt in Berlin, 1948 (Jüdisches Museum)
Familie Mahrt in Berlin, 1948 (Jüdisches Museum)
Verabschiedung der Familie Mahrt nach einem Deutschland-Besuch, März 1962 (Jüdisches Museum)
Verabschiedung der Familie Mahrt nach einem Deutschland-Besuch, März 1962 (Jüdisches Museum)

Wie viele andere Verfolgte auch besuchen die Mahrts Deutschland mehrere Male, auch um ihre Wiedergutmachungsangelegenheiten zu regeln. Allerdings werden die schweren gesundheitlichen Schäden, insbesondere die seelischen, die sich in den Jahren nach dem Krieg noch verstärkten, niemals als verfolgungsbedingt anerkannt. Im Rentenalter ziehen die Mahrts 1976 nach Rendsburg zurück, auch, weil der Sohn dort einen beruflichen Neustart wagt. Leider gelingt es ihnen nicht, in ihrer alten Heimatstadt wieder heimisch zu werden. Bis auf eine Freundin ist keiner der ehemaligen Bekannten mehr dort, von der vormals großen Familie Gortatowski war bereits nach dem Nationalsozialismus keiner mehr in Rendsburg übrig.

(Jüdisches Museum)
(Jüdisches Museum)

Es ist davon auszugehen, dass die Erfahrung der Verfolgung Wally Mahrt bis ins hohe Alter nicht loslässt und sie irgendwann zur Aufgabe zwingt. Ein Weiterleben kommt für sie nicht mehr infrage. Am 7. Oktober 1979 nimmt sich Wally Mahrt das Leben. In einem Abschiedsbrief bedankt sie sich bei Erich für alles, was er für sie getan hat. Dieser stirbt neun Jahr später im Alter von 78 Jahren.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Jonas Kuhn: Wally Mahrt, in: Kirsten Baumann / Jonas Kuhn: Gerettet, aber nicht befreit. Überlebende der Shoah in Schleswig-Holstein, Rendsburg 2020, S. 60-65.
Gertrud Eickhorst
Georg Chaikin
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